Sonntag, 16. März 2014

Gaby wartet im Park - Kapitel 8- Neufassung



Kapitel 8

Gaby Moser saß an ihrem Schreibtisch in der Bezirksdirektion der Zenturion Versicherung. Ihr Blick war starr auf dem Flachbildschirm gerichtet. 30 % Stornoquote, irgendwer brach in ihren Geschäftszweig ein. Nicht, dass sie einen Schatten aus ihrer Vergangenheit an der Backe hatte. Nein, zu allem Überfluss musste sie auch noch beruflich kämpfen.

„Frau Brandt, bitte rufen Sie für Montag alle Hauptorganisationsleiter und Organisationsleiter zusammen. Es besteht Anwesenheitspflicht.“
„Jawohl Frau Moser.“
Wenigstens das lief noch einigermaßen. Zucht und Ordnung in ihrer Bezirksdirektion. Doch als sie sich die Stornozahlen genauer ansah, verschluckte sie sich fast am Kaffee.
„Verdammte Schei… das ist glatter Betrug!“
Sie sprang auf und lief wild fluchend durch ihr Büro.
„Das kann doch nicht wahr sein. Das ist die größte Sauerei die ich je erlebt habe!“
Dann drückte sie die Durchwahl zu ihrer Sekretärin.
„Frau Brandt, ich nehme mir den Rest des Tages frei.“
Wütend verließ Gaby das Büro der Bezirksdirektion, ihrer Bezirksdirektion, sie hatte diese gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt. Der Vertriebsdirektor war dagegen gewesen, ihn hatte sie mit Zahlen überzeugt. Allerdings musste sie alles selber zahlen. Die Einrichtung, die Miete, das Inventar. Lediglich das Gehalt von Frau Brandt wurde von der Zenturion bezahlt. Und nun drohte sie all das zu verlieren. Sie musste raus. Gaby fuhr auf geradem Weg in ihre Wohnung, duschte kurz zog sich Sportkleidung an, verließ ihre Wohnung und begann zu laufen, sie lief, einfach nur laufen, weglaufen, vergessen.  Vergessen, dass ein Versicherungsvermittler, wenn zu viele seiner Verträge gekündigt wurden, er also zu viele Stornos hatte, entlassen werden konnte. Laufen und vergessen, dass sie ihr ganzes Leben lang mit ihrer Stornoquote, die immer maximal 2 % betrug. Sie konnte sich diese hohen Stornozahlen nicht erklären. Und sie wollte auch nicht. Denn es machte ihr Angst. Es machte ihr Angst, dass sie alles zu verlieren drohte, was sie sich hatte aufgebaut. Und sie wollte nur eines, dieser Angst davon laufen.

Als Gaby anhielt, stand sie direkt vor ihrem alten Dojo. Vorsichtig berührte sie das schwere Holz der Eingangstür. Fassungslos starrte sie auf die Tür. Sie war repariert worden. Es sah fast so aus wie vor 10 Jahren. Aber das konnte nicht sein. Kassandra´s Vater starb vor 5 Jahren. Seit dem war hier nie was passiert. Das alte Dojo war immer mehr verfallen. Unsicher schaute sie sich um, versucht die Tür zu öffnen. Etwas von dem alten Geist zu spüren.

Gaby Moser trat durch die Dojotür, schlüpft aus den Laufschuhen. Sie stellte diese neben dem Eingang ab, legte ihre Hände an die Oberschenkelseite und machte eine Verbeugung, ohne sich im Raum umzusehen. Zu sehr waren die Erinnerungen mit ihr verwurzelt. Zu sehr hatte man ihr den blinden Respekt eingebläut. Sie konnte nicht anders. Und sie wollte es auch nicht anders.

Als sie dann hochschaute, wurde sie leichenblass.  Nichts schien sich verändert zu haben. Wirklich nicht. Das Wappen mit dem rotem Shintoschreintor, die traditonellen Reisstrohmatten, einfach alles war wieder da. Einfach alles sah aus wie vor 10 Jahren. Das rote Tori welches das Wappen des Dojo´s zierte, schien zu leuchten. Der schwarze Baum im Hintergrund und die untergehende Orangefarbene Sonne, alles sah wieder so aus wie früher. Alles fühlte sich wieder so an wie früher. Aber das konnte nicht sein. Das war einfach nicht möglich niemand konnte die Zeit zurückdrehen, die Matten aus Reisstroh mussten vergammelt sein, faulig riechen. Und das Rot des Tores hätte verwittert sein müssen. Aber nichts dergleichen war. Es sah alles so aus, als hätte sie den Raum erst gestern nicht mehr betreten. Gaby stand der Mund offen, sie war sprachlos, sie war mehr als nur sprachlos. Sie war wie in Trance. Sie erlebte gerade ihre eigene Vergangenheit ein zweites Mal und das musste sich erst mal setzen.

„Hallo Träumerin, hast du mich vermisst?“
„Hallo, Kassy. Seit wann ist hier wieder auf?“
„Seit einem Monat, Träumerin. Weißt du das nicht?“
„Nein, wieso sollte ich?“
„Nun, weil ich bei dir im Büro ein Angebot für eine Betriebshaftpflichtversicherung und eine Inventarsversicherung angefragt hab und bis heute keines bekam.“
„Äh, bist du verrückt? Du kannst den Laden doch nicht ohne führen?
„Wer sagte denn, dass ich das tue. Da von Euch kein Angebot kam, hab ich eines von der BVG angenommen?“
„BVG? Das ist unser Rückversicherer, wieso? Ich verstehe nicht?“
„Geh erst mal duschen, du weißt ja wohl noch wo die Duschen sind, oder?“
Wie in Trance verschwand Gaby in den Damenduschen. Wie in Trance zog sie sich aus und dreht das heiße Wasser der Dusche auf.

Mit hochrotem Kopf kam Gaby aus der Dusche. Sie sah gerade noch, wie sich die Schüler von ihrer Sensej, Kassandra Heinze, verabschieden.
„Gruß im Stand. REI!“
Kassandra deutet eine Verbeugung an und gleichzeitig verbeugten sich ihre Schüler vor ihr. Genauso wie es Gaby tat, als sie das Dojo betrat. Die Hände an den Oberschenkel, Gesicht nach unten. Sofort erkannte Gaby, dass nicht mal die Hälfte den Sinn dieser rituellen Handlung verstanden hatte. Innerlich lachte sie.
Dann ging Kassandra auf sie zu. Komm Gaby, wir machen uns was zu essen und reden, Ich geh vorher noch mal duschen und danach reden wir. Ich denke, das ist schon lange überfällig.“

Gaby nickte nur stumm. Die Atmosphäre hatte sie wieder. Das hier war mal ihre Heimat, der Ort an dem sie glücklich war. Durch den Verfall hatte sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Jeder zerstörte Ziegel, jedes kaputte Fenster ließ sie erkennen, dass das alles Vergangenheit war. Nun war ihre Vergangenheit auf einmal wieder lebendig.
„Aber man kann die Geister der Vergangenheit nicht wieder zum Leben erwecken. Das vergangene ist vergangen. Die Zeit geht nur in eine Richtung.“, dachte Gaby für sich.
„Huhu Träumerin, bist du noch da?“
Vor ihr stand Kassandra in einem weißen Gi und einem schwarzen Hakama und schaut ihre Freundin besorgt an.
„Ja, klar. Sind nur ein paar Erinnerungen die gerade hochkommen.“
Gaby schaute Kassandra an. Der schwarze Hosenrock, diese weiße Jacke. Verlegen lächelt Gaby auf. Sie wusste genau, dass das mehr als nur Erinnerungen waren. Es war ein leises Bedauern dabei. Diese Halle war jahrelang ihr Korsett gewesen, das was ihrem Leben einen Halt gab. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihr Vater ihr den Umgang verboten hatte.
 „Wollten wir nicht über andere Dinge reden?“
„Wir reden darüber was dir auf dem Herzen liegt, Träumerin.“
Da war sie wieder,  diese sanfte Führung, dieser Schubs in die Richtung die für sie gut war. Warum machte Kassandra das nur? Konnte sie sie nicht einfach nur in Ruhe lassen.
„Kann ich das Angebot mal sehen. Ich meine das von der BVG?“
„Klar, nachher kannst du es sehen. Erst mal gehe ich duschen. Machst du uns schon mal was zu essen. Du weißt ja wo die Küche ist.“
„Klar….“
Und schon stand  Gaby mit offenen Mund da und wundert sich. Kassandra hatte es wieder getan. Wieder gab sie die Befehle, wieder wurde sie behandelt wie ein kleines Kind. Dabei waren die beiden nicht mal mehr ein Paar. Was fiel ihr eigentlich ein? Sie waren nicht mehr zusammen. SIE hatte den Deal gebrochen. Warum fing sie wieder damit an? Warum wollte sie wieder die Kontrolle?
Doch dann hörte sie schon aus den Duschen das Wasser rauschen. Kassandra hatte sie einfach stehen gelassen.
Verwirrt ging Gaby in die Küche, wieder kamen Erinnerungen hoch. Kassandras Vater hatte hier oft für die Drei gekocht.

Wieder stand Gaby in der Küche, sie war renoviert worden, moderner. Aber dennoch, diese Küche würde sie immer wieder erkennen.  Zu viele Erinnerungen, zu viele glückliche Momente, zu viele Abende mit Kassandra und ihrem Vater.
Mechanisch bereitete Gaby das Abendbrot zu. Brotzeit mit Aufschnitt, so wie Kassandra´s es abends immer liebte. Die Scheiben Schwarzbrot schnitt sie in kleine Portionen, öffnet noch schnell eine Flasche Bier und füllt dieses in ein Glas. Sie stutzt, dieses Glas kannte sie, es war dasselbe Glas wie vor 10 Jahren, es war das Glas, was sie Kassandra geschenkt hatte. Das Glas, aus dem beide zusammen ihr erstes Bier getrunken hatten. Sie seufzte auf und brachte alles an den Wohnzimmertisch, wie gewohnt schaltete sie den Fernseher ein, dreht die Lautstärke etwas runter. Es war, als wäre nie ein Tag vergangen, es war, als wäre alles wie immer.
Gaby und Kassandra saßen beim Abendessen. Gaby wagte es immer noch nicht Kassandra anzusehen. Zu gerne würde sie wissen wieso. Zu gerne würde sie erfahren, wo Kassandra war. Zu gerne würde sie wissen was damals passiert ist.

„Du Kassandra?“
„Ja Träumerin?“
In Gaby regt sich Widerstand. Es gab eine Zeit in der sie geträumt hatte, eine Zeit in der sie dem Leben am liebsten entflohen wäre. Aber diese Zeit war vorbei. Schon lange.
„Kassandra, ich träume schon lange nicht mehr?“
„Und warum sitzt du dann hier bei mir, isst mit mir zu Abend? So wie damals?“
„Weil ich zufällig hier her kam, und du mich eingeladen hast!“
Gaby versuchte es einfach mal mit einer Lüge. Sie musste Kassandra ja nicht sagen, dass sie noch immer eine große Bedeutung in ihrem Leben hatte. Immer, nein schon wieder. Seit dem Treffen in ihrer Bar, seit Kassandra sie vor den Kerlen gerettet und nach Hause gebracht hatte. Seitdem war sie ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Aber das musste sie IHR nicht auf die Nase binden. Das musste SIE auf keinen Fall erfahren.
„GABY MOSER, lüg mich nicht an.“
Kassandra´s Stimme klang sauer. Sie schien die gleiche Abneigung gegen Lügen zu haben wie ihr Vater. Denn der hatte damals genauso reagiert. Gaby schluckte, sollte sie wirklich mit der Wahrheit rausrücken? Sollte sie ihr wirklich sagen, wie sehr sie sich in ihr Herz gebrannt hatte?
„Verdammt ja, ich hab geträumt.“
Gaby hoffte inständig, dass sich Kassandra von dieser „verkürzten Wahrheit“ blenden lassen würde. Sie wollte nicht alles erzählen.
„Wovon hast du denn geträumt?“
Kassandra´s Stimme war auf einmal ganz sanft. Ihre Hand sucht die von Gaby, nahm sie und schaut ihr dabei tief in ihre grünen Augen.
„Wovon hat meine kleine Träumerin geträumt?“
„Genau davon!“
„Wovon?“
„Davon was hier gerade passiert, davon was du in mir auslöst. Davon endlich ein Heim zu haben.“
In Gaby brachen alle Dämme sie saß auf der Couch, ihr Kopf auf der Schulter von Kassandra und sie weinte hemmungslos. Kassandra legte ihren Arm um sie, streichelte ihr sanft über den Kopf.
„Es tut mir leid, Liebes. Aber jetzt bin ich für dich da. Versprochen. Ich lass dich nie wieder alleine. Wenn du mich noch willst.“
In Kassandra´s Stimme spiegelte sich eine Unsicherheit, deutlich hörbar für Gaby. Die große Kassandra, ihre große Kassandra hatte Angst sie zu verlieren.
„Ich habe nie etwas anderes gewollt.“
„Und Stefan?“
„Stefan? Ja, ich habe ihn geliebt. Aber er konnte mir nicht das geben was ich bei dir hatte.“
„Hm? Nicht. Nun mindestens in einer Sache ist er mir überlegen.“
„Ich rede nicht von Sex.“
„Sondern?“
„Von Halt. Ja ich mag Sex mit Männern. Aber die wenigsten können mir den Halt geben, den ich von dir bekam. Eigentlich keiner konnte das.“
„Ach Träumerin, dann werden wir in unserem Leben wohl einen Mann finden müssen, der neben mir bestehen kann und dir dennoch den Halt gibt den du brauchst.“
„Wer sagt denn, dass ich neben dir einen Mann akzeptieren kann oder will?“
In Gaby regte sich erneut Widerstand. Was bildete sich Kassandra ein. Mit welchem Recht wollte sie wieder über ihr Leben bestimmen?
„Meinst du wirklich, ich lass es noch mal zu, so verletzt werden zu können? Meinst du wirklich, irgendwer bekommt diese Macht über mich?“
„Gaby, glaubst du ehrlich ich hab diese „Macht“, wie du es nennst, nicht über dich?“
„Dann frag ich anders. Warum sollte ich irgendwem neben dir erlauben, diese Macht über mich zu haben?“
„Weil du nur mit einem solchem Menschen an deiner Seite wirklich glücklich werden kannst.“
„Stimmt, nur sollte dieser Mensch männlich sein.“
All ihre Wut, all ihre verletzten Gefühle kamen wieder in ihr hoch. Nie wieder würde sie eine Frau so nah an sich heranlassen. Nie wieder würde sie es aushalten so verletzt zu werden.
„Warum hast du mir das nie erzählt? Ich meine, warum konntest du mir das nicht schreiben?“
„Aus demselben Grund aus dem ich dir zur Zeit nicht sagen kann, was ich in den USA gemacht habe.“
„Na komm schon, hör auf damit. Du tust ja so als ob du da drüben wen umgebracht hättest.“
Gaby knufft Kassandra in die Seite. Doch diese reagiert nicht.
„Ich kann es dir nicht sagen und hör bitte auf mich zu drängen.“
„Hai Sensej.“
Zu mehr war Gaby in diesem Moment nicht in der Lage. Mehr bekam sie einfach nicht raus. Es war, als würde jedes weitere Wort überflüssig.
„Darf ich die Angebote von BVG mal sehen?“
Sie traute sich fast gar nicht die Frage zu stellen. Zu sehr erinnerte sie gerade dieses Gefühl an damals. Sie fühlte sich gerade wieder klein. So wie damals.
„Klar, ich hol mal eben die Unterlagen.“
Gaby saß total verwirrt am Tisch und grübelte. Was ging hier vor? Was wollten ihr Vater und Kassandra´s  Vater erreichen? Warum dieses Manöver?
„Weißt du, ich hab damals echt geglaubt, dass ich es dir nicht wert war.“ Ich glaubte echt du wolltest mich nicht. Und das hat so verdammt weh getan.“
„Es tut mir leid, aber ich konnte dir nicht schreiben, ich durfte nicht.“
„Wieso? Du hättest es versuchen müssen!!!“
„Das habe ich und nicht nur einmal. Glaub mir.“
„Nur die Folgen waren halt nicht sehr erbauend!“
„Oh, man! Das ist nicht wahr, oder? Ich meine, die haben nicht wirklich?“
„Doch die haben und jedes Mal wenn ich dir Post geschickt habe wurde es schlimmer. Bis zu dem einen Tag, an dem Archangel einen Brief bekam.“
„Was war in dem Brief?“
„Es war ein Brief meines Vaters und sein Testament. Er hatte sich bei Archangel entschuldigt und mir das Dojo hinterlassen.“
„Und wie hat Archangel reagiert? Ich meine, ihr mochtet Euch anscheinend ja nicht sehr.“
„Er hat sich entschuldigt, wir waren mittlerweile so was wie Vater und Tochter geworden. Er war mir mehr Vater als ich es hätte erwarten können.“
„Warum bist du denn jetzt erst wieder hergekommen?“
„Ich musste meine 10 Jahre Dienstzeit beenden. Danach konnte ich mich erst hier um alles kümmern. Erst wollte ich alles verkaufen, dann aber kamen zu viele schöne Erinnerungen hoch und ich beschloss das Dojo wieder auf zu bauen.“

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