Kapitel 8
Gaby
Moser saß an ihrem Schreibtisch in der Bezirksdirektion der Zenturion
Versicherung. Ihr Blick war starr auf dem Flachbildschirm gerichtet. 30 %
Stornoquote, irgendwer brach in ihren Geschäftszweig ein. Nicht, dass sie einen
Schatten aus ihrer Vergangenheit an der Backe hatte. Nein, zu allem Überfluss
musste sie auch noch beruflich kämpfen.
„Frau
Brandt, bitte rufen Sie für Montag alle Hauptorganisationsleiter und
Organisationsleiter zusammen. Es besteht Anwesenheitspflicht.“
„Jawohl
Frau Moser.“
Wenigstens
das lief noch einigermaßen. Zucht und Ordnung in ihrer Bezirksdirektion. Doch
als sie sich die Stornozahlen genauer ansah, verschluckte sie sich fast am
Kaffee.
„Verdammte
Schei… das ist glatter Betrug!“
Sie
sprang auf und lief wild fluchend durch ihr Büro.
„Das
kann doch nicht wahr sein. Das ist die größte Sauerei die ich je erlebt habe!“
Dann
drückte sie die Durchwahl zu ihrer Sekretärin.
„Frau
Brandt, ich nehme mir den Rest des Tages frei.“
Wütend
verließ Gaby das Büro der Bezirksdirektion, ihrer Bezirksdirektion, sie hatte
diese gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt. Der Vertriebsdirektor war dagegen
gewesen, ihn hatte sie mit Zahlen überzeugt. Allerdings musste sie alles selber
zahlen. Die Einrichtung, die Miete, das Inventar. Lediglich das Gehalt von Frau
Brandt wurde von der Zenturion bezahlt. Und nun drohte sie all das zu
verlieren. Sie musste raus. Gaby fuhr auf geradem Weg in ihre Wohnung, duschte
kurz zog sich Sportkleidung an, verließ ihre Wohnung und begann zu laufen, sie
lief, einfach nur laufen, weglaufen, vergessen.
Vergessen, dass ein Versicherungsvermittler, wenn zu viele seiner
Verträge gekündigt wurden, er also zu viele Stornos hatte, entlassen werden
konnte. Laufen und vergessen, dass sie ihr ganzes Leben lang mit ihrer
Stornoquote, die immer maximal 2 % betrug. Sie konnte sich diese hohen
Stornozahlen nicht erklären. Und sie wollte auch nicht. Denn es machte ihr
Angst. Es machte ihr Angst, dass sie alles zu verlieren drohte, was sie sich
hatte aufgebaut. Und sie wollte nur eines, dieser Angst davon laufen.
Als Gaby anhielt, stand sie direkt vor
ihrem alten Dojo. Vorsichtig berührte sie das schwere Holz der Eingangstür.
Fassungslos starrte sie auf die Tür. Sie war repariert worden. Es sah fast so
aus wie vor 10 Jahren. Aber das konnte nicht sein. Kassandra´s Vater starb vor
5 Jahren. Seit dem war hier nie was passiert. Das alte Dojo war immer mehr
verfallen. Unsicher schaute sie sich um, versucht die Tür zu öffnen. Etwas von
dem alten Geist zu spüren.
Gaby
Moser trat durch die Dojotür, schlüpft aus den Laufschuhen. Sie stellte diese
neben dem Eingang ab, legte ihre Hände an die Oberschenkelseite und machte eine
Verbeugung, ohne sich im Raum umzusehen. Zu sehr waren die Erinnerungen mit ihr
verwurzelt. Zu sehr hatte man ihr den blinden Respekt eingebläut. Sie konnte
nicht anders. Und sie wollte es auch nicht anders.
Als
sie dann hochschaute, wurde sie leichenblass.
Nichts schien sich verändert zu haben. Wirklich nicht. Das Wappen mit
dem rotem Shintoschreintor, die traditonellen Reisstrohmatten, einfach alles
war wieder da. Einfach alles sah aus wie vor 10 Jahren. Das rote Tori welches
das Wappen des Dojo´s zierte, schien zu leuchten. Der schwarze Baum im
Hintergrund und die untergehende Orangefarbene Sonne, alles sah wieder so aus
wie früher. Alles fühlte sich wieder so an wie früher. Aber das konnte nicht
sein. Das war einfach nicht möglich niemand konnte die Zeit zurückdrehen, die
Matten aus Reisstroh mussten vergammelt sein, faulig riechen. Und das Rot des
Tores hätte verwittert sein müssen. Aber nichts dergleichen war. Es sah alles
so aus, als hätte sie den Raum erst gestern nicht mehr betreten. Gaby stand der
Mund offen, sie war sprachlos, sie war mehr als nur sprachlos. Sie war wie in
Trance. Sie erlebte gerade ihre eigene Vergangenheit ein zweites Mal und das
musste sich erst mal setzen.
„Hallo
Träumerin, hast du mich vermisst?“
„Hallo,
Kassy. Seit wann ist hier wieder auf?“
„Seit
einem Monat, Träumerin. Weißt du das nicht?“
„Nein,
wieso sollte ich?“
„Nun,
weil ich bei dir im Büro ein Angebot für eine Betriebshaftpflichtversicherung
und eine Inventarsversicherung angefragt hab und bis heute keines bekam.“
„Äh,
bist du verrückt? Du kannst den Laden doch nicht ohne führen?
„Wer
sagte denn, dass ich das tue. Da von Euch kein Angebot kam, hab ich eines von
der BVG angenommen?“
„BVG?
Das ist unser Rückversicherer, wieso? Ich verstehe nicht?“
„Geh
erst mal duschen, du weißt ja wohl noch wo die Duschen sind, oder?“
Wie
in Trance verschwand Gaby in den Damenduschen. Wie in Trance zog sie sich aus
und dreht das heiße Wasser der Dusche auf.
Mit
hochrotem Kopf kam Gaby aus der Dusche. Sie sah gerade noch, wie sich die
Schüler von ihrer Sensej, Kassandra Heinze, verabschieden.
„Gruß
im Stand. REI!“
Kassandra
deutet eine Verbeugung an und gleichzeitig verbeugten sich ihre Schüler vor
ihr. Genauso wie es Gaby tat, als sie das Dojo betrat. Die Hände an den
Oberschenkel, Gesicht nach unten. Sofort erkannte Gaby, dass nicht mal die
Hälfte den Sinn dieser rituellen Handlung verstanden hatte. Innerlich lachte
sie.
Dann
ging Kassandra auf sie zu. Komm Gaby, wir machen uns was zu essen und reden,
Ich geh vorher noch mal duschen und danach reden wir. Ich denke, das ist schon
lange überfällig.“
Gaby
nickte nur stumm. Die Atmosphäre hatte sie wieder. Das hier war mal ihre
Heimat, der Ort an dem sie glücklich war. Durch den Verfall hatte sie mit ihrer
Vergangenheit abgeschlossen. Jeder zerstörte Ziegel, jedes kaputte Fenster ließ
sie erkennen, dass das alles Vergangenheit war. Nun war ihre Vergangenheit auf
einmal wieder lebendig.
„Aber man kann die Geister der Vergangenheit nicht wieder zum Leben erwecken. Das vergangene ist vergangen. Die Zeit geht nur in eine Richtung.“, dachte Gaby für sich.
„Aber man kann die Geister der Vergangenheit nicht wieder zum Leben erwecken. Das vergangene ist vergangen. Die Zeit geht nur in eine Richtung.“, dachte Gaby für sich.
„Huhu
Träumerin, bist du noch da?“
Vor
ihr stand Kassandra in einem weißen Gi und einem schwarzen Hakama und schaut
ihre Freundin besorgt an.
„Ja,
klar. Sind nur ein paar Erinnerungen die gerade hochkommen.“
Gaby
schaute Kassandra an. Der schwarze Hosenrock, diese weiße Jacke. Verlegen
lächelt Gaby auf. Sie wusste genau, dass das mehr als nur Erinnerungen waren.
Es war ein leises Bedauern dabei. Diese Halle war jahrelang ihr Korsett
gewesen, das was ihrem Leben einen Halt gab. Bis zu dem Zeitpunkt, als ihr
Vater ihr den Umgang verboten hatte.
„Wollten wir nicht über andere Dinge reden?“
„Wir
reden darüber was dir auf dem Herzen liegt, Träumerin.“
Da
war sie wieder, diese sanfte Führung,
dieser Schubs in die Richtung die für sie gut war. Warum machte Kassandra das
nur? Konnte sie sie nicht einfach nur in Ruhe lassen.
„Kann
ich das Angebot mal sehen. Ich meine das von der BVG?“
„Klar,
nachher kannst du es sehen. Erst mal gehe ich duschen. Machst du uns schon mal
was zu essen. Du weißt ja wo die Küche ist.“
„Klar….“
Und
schon stand Gaby mit offenen Mund da und
wundert sich. Kassandra hatte es wieder getan. Wieder gab sie die Befehle,
wieder wurde sie behandelt wie ein kleines Kind. Dabei waren die beiden nicht
mal mehr ein Paar. Was fiel ihr eigentlich ein? Sie waren nicht mehr zusammen.
SIE hatte den Deal gebrochen. Warum fing sie wieder damit an? Warum wollte sie
wieder die Kontrolle?
Doch
dann hörte sie schon aus den Duschen das Wasser rauschen. Kassandra hatte sie
einfach stehen gelassen.
Verwirrt
ging Gaby in die Küche, wieder kamen Erinnerungen hoch. Kassandras Vater hatte
hier oft für die Drei gekocht.
Wieder
stand Gaby in der Küche, sie war renoviert worden, moderner. Aber dennoch,
diese Küche würde sie immer wieder erkennen.
Zu viele Erinnerungen, zu viele glückliche Momente, zu viele Abende mit
Kassandra und ihrem Vater.
Mechanisch
bereitete Gaby das Abendbrot zu. Brotzeit mit Aufschnitt, so wie Kassandra´s es
abends immer liebte. Die Scheiben Schwarzbrot schnitt sie in kleine Portionen,
öffnet noch schnell eine Flasche Bier und füllt dieses in ein Glas. Sie stutzt,
dieses Glas kannte sie, es war dasselbe Glas wie vor 10 Jahren, es war das
Glas, was sie Kassandra geschenkt hatte. Das Glas, aus dem beide zusammen ihr
erstes Bier getrunken hatten. Sie seufzte auf und brachte alles an den
Wohnzimmertisch, wie gewohnt schaltete sie den Fernseher ein, dreht die
Lautstärke etwas runter. Es war, als wäre nie ein Tag vergangen, es war, als
wäre alles wie immer.
Gaby
und Kassandra saßen beim Abendessen. Gaby wagte es immer noch nicht Kassandra
anzusehen. Zu gerne würde sie wissen wieso. Zu gerne würde sie erfahren, wo
Kassandra war. Zu gerne würde sie wissen was damals passiert ist.
„Du
Kassandra?“
„Ja
Träumerin?“
In
Gaby regt sich Widerstand. Es gab eine Zeit in der sie geträumt hatte, eine
Zeit in der sie dem Leben am liebsten entflohen wäre. Aber diese Zeit war
vorbei. Schon lange.
„Kassandra,
ich träume schon lange nicht mehr?“
„Und
warum sitzt du dann hier bei mir, isst mit mir zu Abend? So wie damals?“
„Weil
ich zufällig hier her kam, und du mich eingeladen hast!“
Gaby
versuchte es einfach mal mit einer Lüge. Sie musste Kassandra ja nicht sagen,
dass sie noch immer eine große Bedeutung in ihrem Leben hatte. Immer, nein
schon wieder. Seit dem Treffen in ihrer Bar, seit Kassandra sie vor den Kerlen
gerettet und nach Hause gebracht hatte. Seitdem war sie ihr nicht mehr aus dem
Kopf gegangen. Aber das musste sie IHR nicht auf die Nase binden. Das musste
SIE auf keinen Fall erfahren.
„GABY
MOSER, lüg mich nicht an.“
Kassandra´s
Stimme klang sauer. Sie schien die gleiche Abneigung gegen Lügen zu haben wie
ihr Vater. Denn der hatte damals genauso reagiert. Gaby schluckte, sollte sie wirklich
mit der Wahrheit rausrücken? Sollte sie ihr wirklich sagen, wie sehr sie sich
in ihr Herz gebrannt hatte?
„Verdammt
ja, ich hab geträumt.“
Gaby
hoffte inständig, dass sich Kassandra von dieser „verkürzten Wahrheit“ blenden
lassen würde. Sie wollte nicht alles erzählen.
„Wovon
hast du denn geträumt?“
Kassandra´s
Stimme war auf einmal ganz sanft. Ihre Hand sucht die von Gaby, nahm sie und
schaut ihr dabei tief in ihre grünen Augen.
„Wovon
hat meine kleine Träumerin geträumt?“
„Genau
davon!“
„Wovon?“
„Davon
was hier gerade passiert, davon was du in mir auslöst. Davon endlich ein Heim
zu haben.“
In
Gaby brachen alle Dämme sie saß auf der Couch, ihr Kopf auf der Schulter von
Kassandra und sie weinte hemmungslos. Kassandra legte ihren Arm um sie,
streichelte ihr sanft über den Kopf.
„Es
tut mir leid, Liebes. Aber jetzt bin ich für dich da. Versprochen. Ich lass
dich nie wieder alleine. Wenn du mich noch willst.“
In
Kassandra´s Stimme spiegelte sich eine Unsicherheit, deutlich hörbar für Gaby.
Die große Kassandra, ihre große Kassandra hatte Angst sie zu verlieren.
„Ich
habe nie etwas anderes gewollt.“
„Und
Stefan?“
„Stefan?
Ja, ich habe ihn geliebt. Aber er konnte mir nicht das geben was ich bei dir
hatte.“
„Hm?
Nicht. Nun mindestens in einer Sache ist er mir überlegen.“
„Ich
rede nicht von Sex.“
„Sondern?“
„Von
Halt. Ja ich mag Sex mit Männern. Aber die wenigsten können mir den Halt geben,
den ich von dir bekam. Eigentlich keiner konnte das.“
„Ach
Träumerin, dann werden wir in unserem Leben wohl einen Mann finden müssen, der
neben mir bestehen kann und dir dennoch den Halt gibt den du brauchst.“
„Wer
sagt denn, dass ich neben dir einen Mann akzeptieren kann oder will?“
In
Gaby regte sich erneut Widerstand. Was bildete sich Kassandra ein. Mit welchem
Recht wollte sie wieder über ihr Leben bestimmen?
„Meinst
du wirklich, ich lass es noch mal zu, so verletzt werden zu können? Meinst du
wirklich, irgendwer bekommt diese Macht über mich?“
„Gaby,
glaubst du ehrlich ich hab diese „Macht“, wie du es nennst, nicht über dich?“
„Dann
frag ich anders. Warum sollte ich irgendwem neben dir erlauben, diese Macht
über mich zu haben?“
„Weil
du nur mit einem solchem Menschen an deiner Seite wirklich glücklich werden
kannst.“
„Stimmt,
nur sollte dieser Mensch männlich sein.“
All
ihre Wut, all ihre verletzten Gefühle kamen wieder in ihr hoch. Nie wieder
würde sie eine Frau so nah an sich heranlassen. Nie wieder würde sie es
aushalten so verletzt zu werden.
„Warum
hast du mir das nie erzählt? Ich meine, warum konntest du mir das nicht
schreiben?“
„Aus
demselben Grund aus dem ich dir zur Zeit nicht sagen kann, was ich in den USA
gemacht habe.“
„Na
komm schon, hör auf damit. Du tust ja so als ob du da drüben wen umgebracht
hättest.“
Gaby
knufft Kassandra in die Seite. Doch diese reagiert nicht.
„Ich
kann es dir nicht sagen und hör bitte auf mich zu drängen.“
„Hai
Sensej.“
Zu
mehr war Gaby in diesem Moment nicht in der Lage. Mehr bekam sie einfach nicht
raus. Es war, als würde jedes weitere Wort überflüssig.
„Darf
ich die Angebote von BVG mal sehen?“
Sie
traute sich fast gar nicht die Frage zu stellen. Zu sehr erinnerte sie gerade
dieses Gefühl an damals. Sie fühlte sich gerade wieder klein. So wie damals.
„Klar,
ich hol mal eben die Unterlagen.“
Gaby
saß total verwirrt am Tisch und grübelte. Was ging hier vor? Was wollten ihr
Vater und Kassandra´s Vater erreichen?
Warum dieses Manöver?
„Weißt
du, ich hab damals echt geglaubt, dass ich es dir nicht wert war.“ Ich glaubte
echt du wolltest mich nicht. Und das hat so verdammt weh getan.“
„Es
tut mir leid, aber ich konnte dir nicht schreiben, ich durfte nicht.“
„Wieso?
Du hättest es versuchen müssen!!!“
„Das
habe ich und nicht nur einmal. Glaub mir.“
„Nur
die Folgen waren halt nicht sehr erbauend!“
„Oh,
man! Das ist nicht wahr, oder? Ich meine, die haben nicht wirklich?“
„Doch
die haben und jedes Mal wenn ich dir Post geschickt habe wurde es schlimmer.
Bis zu dem einen Tag, an dem Archangel einen Brief bekam.“
„Was
war in dem Brief?“
„Es
war ein Brief meines Vaters und sein Testament. Er hatte sich bei Archangel
entschuldigt und mir das Dojo hinterlassen.“
„Und
wie hat Archangel reagiert? Ich meine, ihr mochtet Euch anscheinend ja nicht
sehr.“
„Er
hat sich entschuldigt, wir waren mittlerweile so was wie Vater und Tochter
geworden. Er war mir mehr Vater als ich es hätte erwarten können.“
„Warum
bist du denn jetzt erst wieder hergekommen?“
„Ich
musste meine 10 Jahre Dienstzeit beenden. Danach konnte ich mich erst hier um
alles kümmern. Erst wollte ich alles verkaufen, dann aber kamen zu viele schöne
Erinnerungen hoch und ich beschloss das Dojo wieder auf zu bauen.“
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